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Verständnis
Das Zusammenwirken von Wissen und Sein
Nach Gurdjieff ist Verständnis das Produkt aus Wissen und Sein. Das bedeutet: Verständnis kann nur entstehen, wenn sowohl die Linie des Wissens (Kenntnisse, Informationen, Fachwissen, mentale Fähigkeiten) als auch die Linie des Seins harmonisch und in gegenseitiger Ergänzung entwickelt sind. Verständnis bedeutet hier also, im Gegensatz zur alltagsüblichen Interpretation des Begriffs, nicht eine vorwiegend intellektuelle Kapazität (also Virtuosität des Verstandes), sondern es impliziert auch die Möglichkeit zu handeln, also entsprechend einer Notwendigkeit praktisch vorzugehen und eventuelle Probleme zu lösen (Fähigkeit).
Sein hängt nach der Lehre des Vierten Weges vom Entwicklungsgrad des Wesenskerns ab. Dabei handelt es sich im Unterschied zur Persönlichkeit, die aus Konditionierungen und Erinnerungen besteht, um das, was einem Menschen zugehört und sein natürliches, unverfälschtes Sein ausmacht.
Bei einer harmonischen Entwicklung entwickeln sich also die Linie des Wissens wie auch des Seins gleichermaßen. Menschen, bei denen sich nur die erste Linie entwickelt, wissen zwar viel, können aber nicht tun, und Menschen, die nur auf der Seinsebene stark sind, können zwar tun, aber wissen nicht, was. Beispiele hierfür lassen sich im täglichen Leben zuhauf finden. Hier spielt auch hinein, daß bei den meisten Menschen die Entwicklung des Wesenskerns in einem frühen Stadium stoppt, etwa in einem Alter zwischen fünf und dreizehn Jahren. Dies wird dann meist von der Persönlichkeit kaschiert, die diesem unentwickelten, emotional unausgeglichenen und zumeist krankhaft egozentrischen Charakterbild ein übertrieben wissendes, selbstsicheres und dominantes Äußeres zu verleihen trachtet. Derartige Menschentypen trifft man häufig in Kreisen von Politikern, Funktionären und Wirtschaftsführern an.
Die Bedeutung von Verständnis
Aus obigem geht hervor, daß Verständnis nichts Konsumierbares ist, und es wird auch nicht an Ausbildungseinrichtungen des Staates eingetrichtert. Das allermeiste, was Kultur und Gesellschaft für Verständnis ausgeben, ist nur ein hohler Anschein und Anspruch. Bestes Beispiel ist intellektuelle Aufschneiderei und hochgestochenes Getue im „Kulturbetrieb“ (Medien, Feuilleton, „Kritik“) und in der akademischen Welt der sogenannten Gelehrten, Experten oder Philosophen.
Echtes Verstehen ist unbezahlbar und mehr wert als jeder äußere Reichtum der Welt. Nur damit ist es möglich, Täuschung und Wahrheit zu unterscheiden, insbesondere was die wichtigen Aspekte des Lebens betrifft, wie: Position des eigenen Daseins in bezug zur Ganzheit des Lebens, zwischenmenschliche Beziehungen, fruchtbare Entfaltung des eigenen Potentials und befriedigender Selbstausdruck.
Erwerb und Besitz von Verständnis
Man kann einem Menschen weder richtiges Verständnis geben noch falsches Verständnis wegnehmen. Damit relativiert sich jeder Versuch von Beeinflussung in diesem Bereich. Jeder wird, was er aus tiefstem inneren Antrieb anstrebt, und es liegt ganz allein an ihm, wohin er damit gelangt. Gewonnenes Verständnis ist übrigens unzerstörbar und unverlierbar.
Geleitete Entwicklung
Verständnis kann in der Regel genauso wenig allein gebildet werden und wachsen, wie man Wissenschaften oder Künste allein erschaffen und entwickeln könnte. Einrichtungen zur Entwicklung von existentiellem (spirituellem und ganzheitlichem) Verständnis sind in der heutigen oberflächlichen Epoche äußerst selten geworden. Ein klassisches und, wenn man sich näher damit beschäftigt, sehr anschauliches Beispiel stellen die Sufi-Schulen der Blütezeit dieser Bewegung (11.-12. Jhdt.) dar. Als neueren, zeitgemäßen Ansatz verstehen sich Schulen des Vierten Weges. Erwähnt sei auch die Sannyas-Bewegung (Rajneesh/Osho).
Innere Schulen berücksichtigen stets den Aspekt Selbsterkenntnis, Bewußtheit und Selbstfindung als entscheidenden Faktor für die Entwicklung von Verständnis — während die Bildungseinrichtungen des Alltagslebens diesen Aspekt nicht thematisieren und weitgehend außer acht lassen.
Im Unterschied zu veralteten, überholten Pseudo-Religionen (als Überbleibsel ehemals echter Religionen) setzen echte, authentische religiöse Unternehmungen die Funktion des Zweifelns und des eigenen Erforschens von Aussagen und Lehrsätzen voraus. Denn Glauben, insbesondere wenn er weltanschaulich motiviert ist, verhindert zweifelsfreie Verifikation. Echtes Verständnis hingegen kann nur aus einer Synthese von wissenschaftlicher und religiöser Herangehensweise erwachsen. Es zählt immer die eigene tatsächliche Erfahrung, das selbstgewonnene Wissen.
— Gerd-Lothar Reschke 3.8.2008, 20.9.2008
— Gerd-Lothar Reschke 30.03.2019 13:46 (kopiert aus NR-Wiki)