hagakure_und_der_film_ghost_dog
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hagakure_und_der_film_ghost_dog [ 4.07.2023-15:42] – [Abtun der Ablenkung] gerdlothar | hagakure_und_der_film_ghost_dog [ 1.02.2024-17:34] (aktuell) – gerdlothar | ||
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+ | ====== Hagakure und der Film "Ghost Dog" ====== | ||
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+ | ===== Zum besseren Verständnis ist eine Bedeutungsübertragung nötig ===== | ||
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+ | Daß ich neulich durch Zufall auf den Film [[https:// | ||
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+ | Mir scheint, daß es zwei Möglichkeiten gibt, mit dem Film bzw. dem Buch umzugehen. Die erste ist, diesen Kodex der Samurai als etwas Außenstehendes zu betrachten, das auf eine Weise faszinierend, | ||
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+ | Dazu ist es aber nötig, sich von feststehenden Begriffen und Vorstellungen zu lösen, wie hier etwa dem Fürsten bzw. seinem Gefolgsmann. Oder von irgendeiner vorgeformten Ansicht, was Scham oder Ehre sei. Auf dieser Ebene nämlich betrachtet man diese ganze Welt von Werten und Verhaltensweisen bloß wie in einem Schaukasten. Sie mag einem dann interessant vorkommen, momenthaft auch vielleicht verlockend und vielversprechend, | ||
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+ | ===== Der Kern des Hagakure, und warum er weiter aktuell ist ===== | ||
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+ | Der Kern des " | ||
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+ | Der Kern betrifft jeden allein, und zwar betrifft er das Selbst eines jeden. Auf einmal schaut man dann auf das Hagakure von innen statt von außen. Und dann geht es nicht um Ehre oder Scham, sondern um faktische Wahrheit, und es geht nicht um Fürst oder Gefolgsmann, | ||
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+ | Der Fürst tritt im Hagakure scheinbar als äußere Instanz auf. Der Gefolgsmann unterwirft sich dieser Instanz, gibt sich hin, opfert sich. Nun wird gesagt, daß er dadurch erst seine Freiheit gewänne. Daß er damit den Tod überwinde. | ||
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+ | Sprechen wir nun nicht vom Fürsten, sondern vom Selbst, und untersuchen wir, was wir mit den gemachten Aussagen anfangen können. Dazu ist es wichtig, die zentrale Aussage des Werkes in näheren Augenschein zu nehmen: **Wähle den Tod, nicht das Leben.** | ||
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+ | ===== Die Bedeutung des Todes für das Leben ===== | ||
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+ | Derartiges läßt sich nicht mit einem und auch nicht mit wenigen Sätzen erklären; es läßt sich eigentlich überhaupt nicht erklären. So etwas kann nur verstehen, wer es bereits lebt, wer es ist — bei wem Verstehen und Sein ineinanderfallen. Mit Weltanschauungen oder Theorien hat das nichts zu tun. Es ist eher ein Gefühl. Man könnte es "ein ganz bestimmtes Lebens- und Seinsgefühl" | ||
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+ | Aber dennoch sind wir prinzipiell alle in derselben Lage — das wird klar, wenn wir aufhören, uns einzulullen und uns etwas vorzumachen — oder wenn auch uns die entsprechenden Dinge passieren, die uns aufwecken und aufrütteln. | ||
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+ | Was also bedeutet das: Den Tod anstelle des Lebens zu wählen? An einer anderen Stelle des Werkes ist davon die Rede, daß es darauf ankomme, " | ||
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+ | Gemeint ist das Festhalten am Ich als solchem. Setzen wir dieses Gewohnheits-Ich mit dem Gefolgsmann gleich und das Selbst mit dem Fürsten, dann kommen wir der eigentlichen Fragestellung schon näher. Das Ich bzw. der Gefolgsmann, | ||
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+ | ===== Was ist wichtig? ===== | ||
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+ | Das Hagakure erweckt den Geist, man könnte auch sagen die Ahnung für diesen tieferen Sinn — aber dieser Sinn läßt sich nicht beim Namen nennen. Es ist etwas jenseits des Bekannten. Und doch ist es etwas nur zu Vertrautes. In gewisser Hinsicht ist stets von derselben Sache die Rede: Vom Hinter-sich-Lassen von etwas Oberflächlichem und letztlich völlig Unwichtigem. | ||
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+ | Ich möchte einmal ein Beispiel geben. Jeder Mensch ist gewohnt, vom Leben als etwas Wichtigem zu denken. Zugleich ist er gewohnt, bestimmten Aspekten, Eigenschaften und Merkmalen des Lebens besonderen Wert beizumessen. Dies ist wie die Vorstellung, | ||
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+ | Genau so aber ist das Leben und die Existenz eines jeden. Jeder weiß das sogar — auch wenn es gerne verdrängt wird. Es ist eine Tatsache, daß alles, was in Erscheinung tritt, wieder verschwinden wird. Wenn man jung ist, kann man sich einreden, daß das vorläufig, für eine gewisse Zeit, noch keine Bedeutung hätte, aber je älter man wird, desto klarer wird, daß gar nichts an dieser Tatsache des Abschieds von allem Existierenden vorbeiführt. | ||
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+ | Und damit verändert sich aber die Bedeutung all dessen, was existiert, grundlegend! Es kann nämlich, und das muß sich jedem, der sich einmal in Ruhe den Sachverhalt vor Augen hält, als völlig gewiß offenbaren, nichts, und zwar gar nichts von dem, was kurzfristig in Erscheinung tritt, auf Dauer aber spurlos verschwinden muß, von echter, grundsätzlicher Bedeutung sein! Es kann nur so erscheinen, aber es kann nicht so sein. Es kann nur so erscheinen aufgrund einer Selbsttäuschung, | ||
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+ | Je klarer das wird, desto unsinniger muß es einem aber vorkommen, sich an etwas derartig Hohles und letztlich Unwichtiges zu klammern. Gleichzeitig aber kommt ein Wissen (oder zumindest eine erste Ahnung) auf, daß es noch etwas anderes gibt, nämlich etwas, das wirklich wichtig ist und das unser Gefühl von Bedeutung legitimiert. | ||
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+ | Genau das ist es, was hier, im Hagakure, mit dem Tod, bzw. mit den so kraß erscheinenden Aussagen über den Tod, gemeint ist. Es geht um nichts weniger als um diese andere Ebene, diese andere Realität jenseits des Sichtbaren, des vordergründig Lebendigen, des räumlich und zeitlich und materiell (oder geistig) in Erscheinung Tretenden. | ||
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+ | ===== Das Wesentliche ===== | ||
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+ | Der hingebungsvolle Dienst am Fürsten (am Selbst) ist das Tor zu diesem anderen Sein, zu dieser Zeitlosigkeit. Der Dienst ist der Vorgeschmack des Eigentlichen — und zwar bereits in diesem Leben. | ||
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+ | Soviel zum Allgemeinen. So richtig interessant wird es aber erst mit dem Speziellen und Konkreten. Wozu einem dann im Buch und Film auch etliche Anschauungsbeispiele vermittelt werden. Das beste Anschauungsbeispiel aber ist immer das eigene Leben, die eigene Alltagspraxis. Da zeigt sich dann: Geschieht Anhaften am Gewohnten, geschieht also Angst, Gier, Feigheit, Täuschung und Selbsttäuschung — oder geschieht Loslösung davon und Sich-Öffnen zum Neuen, noch Ungeahnten, geschieht also Mut, Aufrichtigkeit, | ||
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+ | Wie vollzieht sich dann hier der " | ||
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+ | ===== Abtun der Ablenkung ===== | ||
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+ | Die [[Praxis]] des Sich-Besinnens besteht in der wiederkehrenden Auseinandersetzung mit allem, was ablenkt und was als unwichtig durchschaut werden muß. Das ist dann die sogenannte " | ||
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+ | Wird der besagte Mittelpunkt verloren, so läßt sich in der Vielfalt der äußeren Geschehnisse und Probleme keine Antwort finden. Es gibt sie dort ganz einfach nicht! Auch läßt sich leicht erkennen, daß all jene, die sich dort verfangen haben und am falschen Platz Lösungen suchen, verloren sind. Ihnen geht das Wichtigste ab. | ||
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+ | ===== Überzeitliches Wissen — die " | ||
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+ | Für die Rückkehr zum Wesentlichen gibt es Hinweise, gibt es auch Geschichten, | ||
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+ | So ist es möglich, sich an die Kraft anzuschließen, | ||
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+ | " | ||
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+ | ===== Von der Selbstentwürdigung zur Klarheit und Kraft ===== | ||
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+ | Darüber hinaus fand und finde ich am Hagakure inspirierend, | ||
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+ | Wer nicht weiß, was richtig ist, der verliert Kraft. Und das heißt: Er richtet seine Kraft, also die ihm von der Natur verliehene ursprüngliche Lebens- oder Vitalenergie, | ||
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+ | Auch hier gilt wieder das Motto der Treue dem Fürsten (bzw. dem Selbst) gegenüber. Das heißt nicht, immer alles zu wissen oder alles wissen zu müssen — unser Zeitgeist nennt das gerne " | ||
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+ | In sich klar kann nur sein, wer nicht verwirrt oder abgelenkt ist. Und in sich klar kann nur sein, wer seinen Dünkel opfert. Wer also bescheiden ist und der Verlockung nach falscher, künstlicher Größe zu widerstehen vermag. Wer still, ruhig, auch: allein sein kann. Wer die Verantwortung in sich selbst findet, statt andere verantwortlich zu machen. | ||
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+ | Genau das aber ist nicht Selbsterniedrigung, | ||
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+ | Aus dem Gesagten wird klar, daß es um Qualitäten des Innern geht, nicht um äußeren Glanz. Es muß aber erst ein genügendes Bewußtsein da sein, daß es solche Qualitäten überhaupt gibt, daß sie möglich sind, und daß sie nicht nur legitim sind, sondern daß sie höchste Priorität haben. | ||
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+ | Man könnte auch sagen: Der eigene Seelenfrieden ist das höchste Gut. Das eigene Gewissen rein zu halten bedeutet, Klarheit zu finden und zu wissen, was richtig und notwendig ist. Indem äußere, künstliche Anhaltspunkte losgelassen werden, wird der innere Anhaltspunkt gefunden, der echt ist, und der überall und immer abrufbar ist. | ||
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+ | ===== Die Schwächen der deutschen Übersetzung ===== | ||
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+ | Der genannte Film "Ghost Dog — Der Weg des Samurai" | ||
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+ | Derartige Schwächen der Übersetzung sind natürlich auch deshalb besonders ärgerlich, weil sie sich über die ursprüngliche Bedeutung schieben und aus dem Text etwas ganz anderes machen, als er ist. Die Bedeutung wird verfälscht, | ||
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+ | Weshalb wird die Bedeutung verfälscht? | ||
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+ | Hinzu kommt dann oft noch das eigenartige Phänomen, daß Übersetzer in Fußnoten oder Anmerkungen Kritik am übersetzten Text üben — das ist mir einmal bei einer Übersetzung der Bhagavadgita begegnet, wo der Übersetzer und Kommentator haufenweise seinem inneren Widerstreben gegen die Grundaussagen des Original-Textes, | ||
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+ | Was einem bleibt, ist nur, zu versuchen, der ursprünglichen Bedeutung, also dem ganzen dem Text zugrundeliegenden Geist und Verständnis selbst so nahe wie möglich auf die Spur zu kommen — und wenn nicht anders möglich, sogar die Grundaussagen in eigenen Worten neu zu formulieren. | ||
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+ | Inzwischen habe ich mir die englische Ausgabe des Hagakure besorgt (erschienen bei Kodansha, Preis 9 $, erhältlich bei amazon (Direktlink: | ||
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+ | ===== Kommentierte Abschnitte ===== | ||
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+ | Aus dem Englischen eigenübersetzte Partien aus dem Hagakure werden hier vorgestellt und kommentiert: | ||
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+ | ==== Die Frage nach der wahren Bedeutung ==== | ||
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+ | Nachlässigkeit ist eine schlechte Sache. | ||
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+ | Dies entspricht dem Ansatz des Koan: nicht mit dem [[Verstand]] auf eine Frage (oder sonstige Situation) zu antworten, sondern mit dem ganzen Sein. Obige Frage wirkt genau so, und daher offenbart sie auch unmittelbar die Fähigkeit, mit dem ganzen Sein (und einem diesem Sein entsprechenden Verständnis) zu antworten. | ||
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+ | //Was ist dein Weg? Was tust du? Wie lebst du?// --- Einfache und direkte Fragen. Bist du dir vollständig darüber klar, was du tust, wie du lebst, in welchem Kontext das steht? Wenn ja, gibt es eine Antwort. Es ist ein Test. | ||
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+ | Und es gibt immer nur eine richtige Antwort. | ||
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+ | Noch etwas: Wenn die Sache einem klar ist, ist es sehr einfach, zu antworten. Die Antwort kommt direkt aus der Tiefe dieser Klarheit. Wenn sie einem aber nicht klar ist --- wie kann man sich dann davon abwenden, ohne solange nachzuforschen und dem Thema auf den Grund zu gehen, bis das geklärt ist? Kann es dann überhaupt noch etwas Wichtigeres geben? | ||
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+ | ==== Nur ein Weg ==== | ||
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+ | Gemeint ist hier die scheinbare Freiheit der Wahl (insbesondere was wesentliche Orientierungen im Leben betrifft), wie sie das heutige selbstbetrügerische Modedenken vertritt. So als könnte man sich aus einer bunten Palette von Angeboten das jeweils Genehme heraussuchen. Natürlich kommt dabei nie und nimmer so etwas wie ein //Weg mit Herz// zustande. Der bloße Gedanke der Wahl ist schon absurd, weil er Nicht-Hingabe an das, was ist, bedeutet und damit das scheinhafte [[Ich]] anstelle der tieferliegenden Wahrheit in den Vordergrund stellt. | ||
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+ | Je freier solche Menschen zu sein meinen, desto unfreier sind sie --- sie sind nur noch Spielball ihrer persönlichen Willkür, ihrer Wünsche, Süchte und Fantasien. [[Sufis]] stellen dem die " | ||
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+ | Im Textabschnitt ist auch angesprochen, | ||
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+ | Das beste ist, gar keinen Weg zu wählen. Der einzig echte Weg ist nichts Übernommenes mehr, sondern eine Rückkehr in den eigenen Ursprung. Die Idee des Wählens und Sich-Entscheidens ist dort völlig ausgelöscht. | ||
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+ | --- //GLR, ca. Mitte 2004, 22.2.2009// | ||
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