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Rilke – Berufung und Meisterschaft

GLR | 28.7.2018 19:30

Die Auswahl von Rilkes Briefen in dem Band Mitten im Lesen schreib ich Dir [bezahlter Amazon-Link] hatte ich vor langer Zeit zufällig in einem Wartezimmer entdeckt und mir daraufhin ein eigenes Exemplar gekauft. Von außen betrachtet mögen die darin enthaltenen Brieftexte versponnen, verkünstelt und abgehoben erscheinen. Aber nur von außen betrachtet. Man muß sich wirklich Zeit, Muße und Gewissenhaftigkeit nehmen, damit sie sich aufschließen.

Womit ich bei dem entscheidenden Unterschied bin, um den es mir immer wieder und auch hier geht. Es geht mir um die wichtigste Zutat von Meisterschaft. Meisterschaft strebt bei jeder Sache stets das Absolute an und gibt sich nicht mit Halbheit zufrieden. Um welche Sache, um welches Augenmerk, Handwerk oder Fachgebiet es sich handelt, ist gar nicht wichtig.

Mir ist das in letzter Zeit zunehmend bei Gesprächen aufgefallen. Die meisten Menschen gehen einer Fragestellung nicht wirklich auf den Grund. Sie gehen ihr noch nicht einmal zur Hälfte, ja nicht einmal zu einem Zehntel auf den Grund. Und so verhalten sie sich in ihrem gesamten Leben und bei allem, was sie tun und womit sie sich beschäftigen. Das natürlich sehr charakteristisch für die heutige völlig oberflächliche Konsummentalität und das Meiden jeglicher Selbstverantwortung. Aber es hat diesen Unterschied immer schon gegeben, und eben hieran unterschieden sich die Geister, unterscheidet sich, ob Wille, Hingabe, Ernsthaftigkeit und — ja, auch — Liebe vorhanden ist oder nicht.

Zurück zu Rilke. Ich fühle mich oft an mich selbst erinnert, wenn ich sehe, wie er sich mit scheinbar unwichtigen Nuancen und Details abgibt. Er kriecht regelrecht in jedes Augenmerk hinein und versucht dessen Essenz herauszuschälen, er versucht den Funken an Erkenntnis und Wahrheit herauszuschlagen, von dem der normale, am Alltag verhaftete Betrachter nie annehmen würde, daß er dort überhaupt jemals zu finden wäre. Eben das wirkt dann versponnen, verkünstelt und abgehoben. Weil man es nur verstehen kann, wenn man selbst so lebt. Mit Denken oder mit irgendeiner "Einstellung" hat das nichts zu tun; es ist auch kein Prinzip, keine Auffassung, keine Disziplin. Sondern es hat ganz direkt damit zu tun, wie einer ist und was er ist. Nur wer wissen will, wer und was er selbst ist, wird auch erkennen können, was das ist, was ihn umgibt. Das trifft dann ohne Wahl auf alles zu, mit dem er zu tun hat. Da so jede Sache von innen gesehen und erforscht wird und nicht von außen, gibt es auch keine von außen herangeführten Maßstäbe oder Wertkategorien.

Daher auch der Begriff "Dichter". Das ist viel mehr, als Poet oder Romancier zu sein. Aber wer versteht, wie wichtig die Verdichtung bei diesem Akt des Wirkens ist und daß sie nicht von außen kommt, durch Komprimierung, sondern daß innen die maximale Dichte bereits vorhanden ist, so wie beim — hypothetisch von dem überwiegenden Teil der heutigen physikalischen Theoretiker angenommenen — "Urknall", der angeblich das gesamte heute vorhandene Universum bereits als Anlage enthalten haben soll?

Ein für Rilke äußerst wichtiger Aspekt seiner Entwicklung bestand in der Entdeckung der Tatsache, zu dieser Tätigkeit berufen zu sein und ebendiese Rolle des Dichters in seinem ganzen Wesen auszudrücken und zu erfüllen, sozusagen schon beim bloßen Atmen, bei der gesamten eigenen physischen Existenz. Zum Dichter ist man somit geboren, also wieder etwas, das innen bereits existiert und von außen gar nicht neu hereingebracht werden könnte.

Im selben Moment bist du, genau wie der Seher oder der Schamane, vom Gros der Gesellschaft getrennt, und diese Trennung könnte auch nie überbrückt werden. Du hast diese Rolle zu spielen, ob du akzeptiert wirst oder nicht, ob du abgelehnt wirst oder nicht, ob du verstanden wirst oder nicht. Als wärest du eine Frau in einer reinen Männergesellschaft, könntest du niemandem jemals erklären, wie es sich von innen her anfühlt, so zu sein.

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