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Die Wirkung von Gedichten von Rainer Maria Rilke

© Marco Holmer | 26.1.2022

Die Gazelle

Gazella Dorcas

Verzauberte: wie kann der Einklang zweier
erwählter Worte je den Reim erreichen,
der in dir kommt und geht, wie auf ein Zeichen.
Aus deiner Stirne steigen Laub und Leier,

und alles Deine geht schon im Vergleich
durch Liebeslieder, deren Worte, weich
wie Rosenblätter, dem, der nicht mehr liest,
sich auf die Augen legen, die er schließt:

um dich zu sehen: hingetragen, als
wäre mit Sprüngen jeder Lauf geladen
und schüsse nur nicht ab, solang der Hals

das Haupt ins Horchen hält: wie wenn beim Baden
im Wald die Badende sich unterbricht:
den Waldsee im gewendeten Gesicht.

Rainer Maria Rilke, 17.7.1907, Paris

Das Buch mit Gedichten von Rilke ist mir in die Hände gefallen, und ich habe nach langer Zeit einige zufällige Abschnitte darin gelesen. Diese Texte haben eine Fähigkeit, innere Wahrnehmungsinhalte direkt zu übertragen und dabei unter der Behandlung durch den Verstand hindurchzuschlüpfen. Die übertragenen Inhalte sind reichhaltig und können bedeutungsvolle Bilder, Stimmungen, Gedankenrichtungen und Gefühle beinhalten, die ein Erlebnis begleiten. Dieser Übertragungsvorgang fasziniert mich. Etwas, das gerade nicht als Abfolge von Beschreibungen in den Worten vorhanden ist, geht beim Lesen in den Leser über. Der Vorgang ist kaum zu verstehen, doch sehr deutlich zu fühlen. Immer wieder laufen mir Schauer über den Körper, wenn es ihm ein ums andere Mal gelingt, mich damit zu überraschen und zu treffen. Überraschend wenige Worte genügen ihm, um innere Landschaften und Szenen zu malen, die dabei eindeutiger, lebendiger und farbiger sind als das, was durch eine rein äußerliche Beschreibung hervorgerufen werden könnte. Jede noch so literarische und wortgewandte Abhandlung bleibt im Vergleich dagegen dem Sujet fremd und fern, wirkt geradezu hochnäsig und grob, weil sie von außen draufsieht und mit Worten wie mit Werkzeugen hantiert.

Die besondere Fähigkeit Rilkes ist es, die bildhafte Ausdrucksform innerer Erlebnisse sehr genau wahrzunehmen und in die mitschwingenden Empfindungsnuancen von Worten einzubetten. In der Komposition von wenigen Worten entstehen so Zusammenklänge, die ein bestimmtes Bild in den Text legen, das über die gegenständliche Beschreibung weit hinausgeht. Es entsteht dadurch beim Lesen der besagte Kanal unterhalb des Verstandes, durch den eine direktere Übertragung stattfindet. Nach der erfolgten Übertragung bleibt der Verstand immer wieder aufs Neue überrascht und überrumpelt zurück, wie sich der aktuelle innere Inhalt ganz ohne seine Beteiligung eingestellt hat.

Oberflächlich betrachtet könnte behauptet werden, das wäre jetzt eine sehr allgemeine Beschreibung von Poesie überhaupt und hätte gar nichts mit Rilkes Werk im besonderen zu tun.

Doch im Vergleich mit anderen Dichtern fällt sehr deutlich auf, wenn äußerliche Beschreibungen durch assoziative Bilder erweitert und ausgeschmückt werden und innere Empfindungen mittels Vergleichen dem Äußeren aufgepfropft werden. Das ist eher ein inneres Schwelgen und Sich-selbst-Ergötzen am eigenen Fühlen und der eigenen Wortgewandtheit. Noch schärfer formuliert: eine Überbetonung des Gefühls- und des Künstlerseins. Diese Art von Selbstbezug und Selbstbestätigung ist ein Merkmal des Verstandes — entsprechend hat man es dann mit Alltagspoesie zu tun.

Bei Rilke merkt man dagegen immer die Arbeit, das Werden, das Unfertige und die minutiöse Selbstüberprüfung, um gerade all das Unnötige abzulegen. Er arbeitet stets an meisterhafter Wesentlichkeit: die Beschränkung auf das Allernotwendigste, um eine Wirkung hervorzurufen. Diese entsteht bei ihm dann immer zwingender, als könnte es am Ende zurückblickend gar nicht anders formuliert sein. Jedes Wort mehr oder weniger würde die erzielte Wirkung aufheben. Es erinnert an die Art, wie Äste und Zweige eines Baums den Raum ausfüllen — in einem natürlichen, organischen Vorgang, in dem sich aber im Ganzen betrachtet eine mathematische Eleganz und Ausgewogenheit ausdrückt, wo nichts zuviel und nichts zuwenig ist.

Rilke nutzt Gedichte ganz gezielt, um den inneren Teil von Erlebnissen zu kondensieren. Der innere Gehalt von Sprache wird zu einem hochwirksamen Destillat verfeinert. Dabei bildet die gegenständliche Bedeutung von Worten nur die eine Hälfte — den Vordergrund des Bildes —, während der Klang der verwendeten Worte die Umgebung und den Hintergrund mit atmendem, pochenden Leben ausfüllen. So wird in wenigen Worten viel mehr übertragen als in Alltagssprache oder ausschweifender literarischer, eloquenter Wortkunst.

Auffällig ist auch, daß es bei ihm keine Trennung gibt zwischen Gegenständlichem und innerem Gehalt. Äußerliches ist die unmittelbare Verkörperung von innerem Erleben. Auch wenn er von ganz und gar Jenseitigem wie z.B. Engeln spricht, nutzt er das nur als Beschreibung seiner Erlebensweise, sich über Gefühle und Empfindungen der inneren Bedeutung jedes Moments anzunähern. Und darin ist er immer Anfänger, einer, der immer wieder neu hinsehen muß, nie fertig ist. In den Gdichten ist das Unsagbare direkt im Ausdruck eines Körpers sichtbar. Das Gegenständliche ist wirklich und verweisende Metapher auf das Ewige zugleich.

Als letztes fällt noch eine überbordende Energie auf, geradezu ein Zwang und innerer Druck, sich in Gedichten ausdrücken zu müssen. Etwas treibt ihn unaufhörlich zur Mitteilung an. Gedichte sind Rilkes Ventil, ein Nebenprodukt, kein Ziel einer Tätigkeit. Eine starke Energie von aufrichtigem Suchen und Selbstüberprüfen strebt nach der Verbindung zur verlorengegangenen Einheit mit anderen und der Umgebung. Die Verfeinerung und poetische Meisterschaft ist bei Rilke kein Selbstzweck, sondern beiläufig anfallendes Ergebnis von notwendigem Ringen und Suchen auf dem Weg zu sich selbst.

Was Rilke als Meister ausmacht und maximale Wirkung hervorruft, ist

  • Vereinfachung und Beschränkung auf das Nötigste — erbringt größtmögliche Ausdruckskraft.
  • Aufhebung der Trennung von Innerem und Körperlich-Materiellem — erzeugt eine durchdringende Unmittelbarkeit.
  • Existentielle Intensität seines Schreibens — die unsichtbare Energiequelle.

Zuerst sucht also Rilke danach, sich selbst auszudrücken. Dabei entsteht ein Werk, das wiederum auf den Autor zurückwirkt, ihn formt, verfeinert und dadurch erst hervorbringt. Offenheit dafür, Rilkes stetes Bemühen nachzuempfinden, sich selbst treu und immer treuer zu sein, läuft auf einen Punkt hinaus, an dem sich ein Erlebnis von Unmittelbarkeit und Eindeutigkeit einstellt. Dann kommt der Leser selbst im Moment an, in der Wirklichkeit des eigenen Lebens.

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