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Hermann Hesse und sein ungelöstes spirituelles Dilemma

© Marco Holmer, Gerd-Lothar Reschke | 2.6.2008, 10.6.2011

Der wahre Hintergrund von Hesses Büchern

Hesse war für mich ein wichtiger Autor. Seine feinfühligen Bücher haben mir immer etwas gegeben, denn ihr zeitloser, traumhafter Charakter kam mir entgegen und sprach von etwas Tieferem, das in anderen Büchern nicht zu finden war.

Im Kern geht es bei Hesse um Selbsterkenntnis und um die Verbindung zu einem spirituellen Lehrer, der die Zusammenhänge um das falsche Selbstbild versteht. Als ich die Hintergründe darüber erfuhr, daß Hesses Büchern echte Erlebnisse zugrundeliegen, wurden mir viele Zusammenhänge klar. Einerseits verstehe ich jetzt seine Bücher besser, in denen sich seine inneren Kämpfe und Zwiespälte wiederspiegeln, andererseits haben sie auch viel von ihrem Reiz für mich verloren. Ich wurde da richtiggehend ent-täuscht, denn die wahren Zusammenhänge dahinter sind nicht so träumerisch, sondern eher ernüchternd und normal. Die Bücher lesen sich dann nur noch wie mystisch-romantische Verschleierungen seiner Erfahrungen.

Das eigentlich Interessante im Zusammenhang mit Hesse sind folgende Punkte:

  1. Warum hat Hesse seine Verbindung zu seinem Lehrer so konsequent verschwiegen?
  2. Wieso ist Hesse aus der Auseinandersetzung mit ihm geflüchtet und mit seiner persönlichen Suche in seinem Leben steckengeblieben?
  3. Warum wird die Verbindung auch heute noch — vor allem in Kreisen des offiziellen Kultur- und Literaturbetriebs — konsequent verschleiert?

Wer war Gusto Gräser?

Gusto Gräser, 1908, mit Signatur. Foto: Bildarchiv Konrad Klein

Der spirituelle Lehrer von Hermann Hesse hieß Gusto Gräser. Der aus Siebenbürgen (heutiges Rumänien) stammende Künstler und Dichter kam Ende des 19. Jahrhunderts nach Mitteleuropa. In Wien verbrachte er einige Monate in der Künstlergemeinschaft seines eigenen Meisters, des Malers Karl Wilhelm Diefenbach. Nach einer krisenhaften inneren Auseinandersetzung löste er sich von ihm [1], vernichtete seine eigenen Bilder und wirkte von da ab allein. 1900 gründete er eine alternative Lebensgemeinschaft auf einem Weinberg bei Ascona, genannt Monte Verità. Das Ziel war, eine Gemeinschaft aufzubauen, in der einfaches, natürliches Leben in Selbstbestimmung möglich war, außerhalb der Zwänge der herrschenden Kultur.

Aufgrund von Uneinigkeiten innerhalb der Gemeinschaft wurde Gräser wieder ausgeschlossen. Er war den anderen Gründern zu radikal. Ich vermute, er wollte eine Gemeinschaft ausschließlich für Menschen, die sich aus eigenem Antrieb nach Wahrheitsfindung und einer entsprechenden Umgebung sehnten. Der Hauptgeldgeber Oedenkoven hatte dagegen andere Ziele. Er übernahm einige modische Ideen der alternativen Reformbewegungen (neue Kleidung, Licht- und Luftbäder, vegetarische Ernährung, usw.) und baute ein Sanatorium auf, um diese Umgebung einem zahlenden Publikum anzubieten. Sozusagen die Lightvariante der Gemeinschaft, ohne die Gefahren der gesellschaftlichen Ächtung und Selbstinfragestellung, aber verbunden mit einem Hauch von Exotik und Unangepaßtheit, ähnlich heutiger Esoterik- und Wellnessmoden.

Der Ruf der ursprünglichen Lebensgemeinschaft hatte sich aber schon weit verbreitet. Der Name Monte Verità war schnell europaweit unter den Anhängern vieler verschiedener Alternativbewegungen bekannt geworden. Er zog von weit her viele Sehnsüchtige an: Künstler, Dichter, Philosophen, Verfechter von politischen und gesellschaftlichen Utopien (Kommunismus, Anarchismus), sowie vor allem Anhänger reformerischer Bewegungen, die heute unter dem Namen Lebensreform zusammengefaßt werden (siehe z.B. Naturheilweisen, Vegetarismus, Reformhaus, FKK-Bewegung, Reformpädagogik, Wandervögelbewegung von Jugendgruppen, Jugendherbergen, usw., siehe Lesehinweise unten). Darunter waren z.B. Lenin, Trotzki, Kropotkin (kommunistischer Anarchismus), August Bebel (Mitbegründer der SPD), Max Weber (ein Begründer der Soziologie), C.G. Jung, Paul Klee, Oskar Maria Graf, Franz Kafka, Isadora Duncan (eine Begründerin des Ausdruckstanzes), Rudolph von Laban (Choreograf). Daß so ein kleiner Ort so große Wirkung hatte, sagt allein schon viel über die damalige Sehnsucht nach anderen Lebensumständen aus.

Nach dem Ausschluß kam Gräser nur noch abschnittweise zum Monte Verità; ansonsten lebte er auf ständiger Wanderschaft durch Europa. Ein längerer Aufenthalt und Zusammentreffen mit Hesse ist von 1916 bekannt, der Zeit, die Hesse im „Demian“ nacherzählte.

Aus den angegebenen Quellen und Gräsers erhaltenen Schriften kann man sich schnell ein recht gutes Bild machen von einem entschlossenen Menschen, der sich von niemand etwas vormachen ließ, sondern immer konsequent nach dem eigenen Empfinden handelte. Er hatte alle falschen Vorstellungen von sich und anderen hinter sich gelassen. Er hätte es auch dem zeitweise interessierten Hermann Hesse ermöglicht, sich von den seinen zu befreien, wenn dieser nicht da, wo es brenzlig wurde, davongelaufen wäre.

Zum weiteren Verständnis hilft noch, daß Gräser eine Zeitlang vor allem als Redner bekannt war.

„Gusto Gräser war den Leuten ein Begriff, sein Auftreten vor dem ersten Weltkrieg machte Sensation, allgemein galt er als 'der Naturmensch'. Nach Landmann [Robert Landmann, „Monte Verita. Geschichte eines Berges“] war er damals eine in ganz Europa bekannte Erscheinung (S.31)“
Hermann Müller, „Der Dichter und sein Guru“, S. 144 (Hvh. dort)

Andererseits war er aber den öffentlichen Stellen ein Dorn im Auge. Er wurde häufig verhaftet, ausgewiesen, eingesperrt und wegen Kriegsdienstverweigerung vorübergehend sogar zum Tode verurteilt.

Hesses gescheiterte Suche

Hesse und Gräser

Gräsers Aufgabe als Hesses Lehrer bestand darin, immer genau auf die wunden Punkte zu zeigen, die Hesse von seiner Wahrhaftigkeit trennten — dies ist ein wichtiger Teil der Arbeit eines echten Meisters. Dabei ging es um Angst, verdrängte Wut und Sexualität, sowie um Eitelkeit. Gerade Eitelkeit ist ein zentraler Bestandteil von Hesses Ego gewesen: diese Eitelkeit führte ihn zu einem störrischen Beharren auf seinen eigenen Vorstellungen von Richtigkeit und Wahrheit und machte ihn von einem gewissen Punkt an unempfänglich für das offene Zulassen einer umfassenderen Wirklichkeit.

Hesses Verleugnen seines Lehrers

Zuerst einmal mußte ich mir klarmachen, daß Hesse sich tatsächlich niemals zu Gräser geäußert und sogar auf Nachfrage seine Verbindung zu ihm geleugnet hat. [2]

Die Beziehung zu seinem Lehrer war zweigeteilt: Einerseits liebte und verehrte er ihn, denn Gräser vertrat für ihn alles, wonach er sich sehnte: Kraft, Würde, Wahrhaftigkeit. Das spricht aus vielen seiner Bücher, in denen er Gräser in Form von eindrucksvollen Meisterfiguren verewigte und über ihn nachsann (z.B. Demian, Vasudeva, der Fährmann in „Siddhartha“, ebenso vergleichbar der Leo in „Morgenlandfahrt“, oder besonders herausragend: der Magister Ludi Josef Knecht im „Glasperlenspiel“).

Gleichzeitig fürchtete er ihn aber auch und zog sich zweimal von seinem Einfluß zurück, als es für ihn an die praktische Verwirklichung ging (das erste Mal 1907, nachdem er mit Gräser nackt und fastend in den Wäldern um die Grotte bei Arcegno lebte, zum zweiten Mal und endgültig 1919, als Gräser von ihm Unterstützung für seine eigenen Veröffentlichungen erbat und nie erhielt).

Suche nach Befreiung

In seinen Büchern beschreibt Hesse deutlich persönliche Punkte, mit denen er zu kämpfen hatte. Eine gute Zusammenfassung geben die Selbstanklagen und Vorstellungen im magischen Theater des Romans „Der Steppenwolf“. Die Punkte lassen sich aber auch an vielen anderen Stellen finden. Siehe z.B. einige Zitate zu Sexualität [3] [4] [5] [6], Ängstlichkeit [7] , verdrängte Wut und ungenutzte Kraft [8] [9] , Selbständigkeit [10] , Eitelkeit und Literaten-Ego [11] [12]. Es finden sich noch viele Beispiele, wie er mit seinen Führer- und Meistergestalten über Gräser und das, was er von ihm erfahren hatte, nachdachte [13] [14] [15] [16].

Hesse auf dem Monte Verità 1907, Foto: Stiftung Monte Verità, Ascona

Das Bild zeigt Hesse (Mitte) auf dem Monte Verità. Ich finde es besonders vielsagend. Alle Personen stehen entspannt und jede auf ihrem Platz in einer eigenen Haltung. Nur Hesse paßt hier offensichtlich nicht hinein. Angespannt drückt er die Knie durch, innerlich ganz versteift, so als müßte er sich zwingen, nicht gleich wegzulaufen. Verhärtet, ungelenk und deplaziert steht er mehr im Weg als auf einem eigenen Standpunkt und verdeckt ungewollt eine andere Person. Die Hände hat er tief vergraben, als wollte er sich irgendwo heimlich festhalten oder etwas verstecken. Mit der Körperhaltung im Profil ist er auch nur halb anwesend. Er fühlt sich sichtlich unwohl und ausgeschlossen. Der Grund für die äußerlich überhebliche, ablehnende Haltung liegt im Kompensieren der Unsicherheiten und echten Gefühle und im Verleugnen der Körperlichkeit.

Es gibt einige Erwähnungen von Hesses Aufenthalten in der Lebensgemeinschaft. Dort läßt sich herauslesen, daß er sich im Rummel der drängenden Lebensgemeinschaft unwohl fühlte. Ihm waren die Freizügigkeit, die nackten Tänze, aber auch marktschreierische Weltanschauungen zuwider [17]. Er wohnte abseits in einer kleinen Hütte, bzw. später in einem kleinen Gartenhäuschen auf dem Grundstück des vegetarischen Erholungsheims von Frau Neugeboren in Locarno-Monti, gegenüber dem Monte Verità. Auf seinen langen Ausflügen zum Malen und Wandern konnte er unauffällig Gräser treffen.

Hesse war von seiner Veranlagung her sehr ruhig und zurückhaltend. (Seine genaue, abgesetzte Sprechweise sagt hier sehr viel aus. [18]). Trotzdem zogen ihn die energischen Freiheitskämpfe der Monteveritaner an, die sich in wildem Aufbruchswillen, Idealismus und auch sexueller Freizügigkeit äußerten. Er selbst wollte daran nicht teilnehmen, sondern blieb lieber allein. Dieses Sehnen einerseits und Nichterreichenkönnen der Körperlichkeit andererseits drückt sich auch in seinen Büchern aus. Biografen konstruierten daraus dann einen metaphysischen Widerspruch zwischen „Ideal und Wirklichkeit“. Auf dieses „fleischliche“ Sehnen ließ sich Hesse dann noch als Fünfzigjähriger ein, was sich sehr gut im Steppenwolf herauslesen läßt. Im Vorwort zu „Krisis“, dem Tagebuch auf dem der Steppenwolf gründet, schreibt er:

„Mit zunehmenden Jahren nun, da das Schreiben hübscher Dinge an sich mir keine Freude mehr macht und nur eine gewisse spät erwachte, leidenschaftliche Liebe zur Selbsterkenntnis und Aufrichtigkeit mich noch zum Schreiben treibt, mußte auch diese bisher unterschlagene Lebenshälfte ins Licht des Bewußtseins und der Darstellung gerückt werden.“ Krisis, S. 6

Trotzdem kommt er bis zum Ende nicht von dem Beigeschmack des Lasterhaften und Sündigen los. Er vermischte in seiner Krise Sexualität mit seinem Alkoholmißbrauch und verachtete sich selbst mehrmals als „Schwein“, statt hier genau zwischen unleugbaren und suchthaften Impulsen zu unterscheiden.

Rückzug

Die Entlarvung gerade seiner Schwächen durch Gräser empfand Hesses Ego als schwere Schmach und Demütigung. Da er aber zugleich an seinem eitlen Selbstbild als „großer Künstler“ hing, konnte er auch nicht öffentlich zugeben, an diesem Punkt bloßgestellt worden zu sein. Deshalb verschleierte er seine Erlebnisse, sponn sie in Gedanken weiter und erträumte sich eine Rolle als Wegbereiter und Verkünder einer großen gesellschaftlichen Umkehr. Er vergeistigte sein spirituelles Versagen und abstrahierte es zu einem intellektuellen Produkt, das ihn selbst nicht mehr direkt betraf und ihm auch keine Veränderung seines konkreten Lebensstils mehr abverlangte.

Gräser hingegen paßte mit seinem unverstellten Auftreten überhaupt nicht in die damalige, biedere Gesellschaft des Kulturbetriebs und war keinesfalls vorzeigbar. Aber gerade in dieser Umgebung hatte sich Hesse seinen Namen gemacht und genoß die gesellschaftliche Anerkennung. Damit konnte er wiederum — zumindest teilweise — sein Gefühl der inneren Leere kompensieren, das ihn ja ursprünglich zu Gräser geführt hatte. Aber gerade in der Gegenwart seines Lehrers war Hesses Selbstbild als mit Auszeichnungen und Anerkennung versehenes Genie unhaltbar, vielleicht sogar lächerlich.

Hesse war klar, daß ihm die äußerliche Prominenz nicht die erhoffte Befriedigung bringen würde, sonst hätte er sich nicht immer wieder an Gräser orientiert und sich mit seinen Hinweisen auseinandergesetzt, bzw. sonst hätte er später nicht immer wieder seinen vertanen Chancen nachgetrauert, die er sich durch seine Verleugnung zuzuschreiben hatte. Jedoch war der Schritt in die Wahrhaftigkeit für Hesse unüberwindlich und erschien ihm wie ein unmöglicher „Sprung in den Weltraum“ [19]. Da er für sich selbst nicht zu seinem Vorhaben der Selbsterkenntnis stehen konnte, konnte er sich auch nicht öffentlich dazu äußern oder seine Verbindung zu Gräser offen zugeben.

Er wußte sehr gut, daß Suche nach Wahrhaftigkeit und Abhängigkeit vom Publikumsgeschmack sich nicht vertrugen. Ferner wollte er sein Selbstbild des berühmten Literaten nicht aufgeben. Er wußte um das Risiko, bei entsprechenden öffentlichen Äußerungen sein Ansehen zu verlieren, oder noch schlimmer: ebenso wie Gräser ausgestoßen, verfolgt, verhaftet und weggesperrt zu werden. Seine Unterstützung für Gräser blieb anonym[20] oder wie bei anderen Prominenten, mit denen Gräser Kontakt hatte (z.B. Thomas Mann), unverfänglich und humanistisch[21] [22].

Der Widerspruch von Spiritualität und Kulturbetrieb

Warum es heute — genau wie damals — völlig verpönt ist, die Hintergründe von Hesses Schriften öffentlich bekannt zu machen, erkläre ich mir so: Von der Masse und ihrem Kulturbetrieb wird solch ein Einfluß ignoriert, denn das Interesse liegt dort nicht auf Verstehen, geschweige denn auf dem Infragestellen von festgefügten Vorstellungen und Weltsichten. Sondern was zählt, sind Künstler, deren Produkte man vermarkten und als Ziel von Projektionen benutzen kann („wieder ein großer deutscher Dichter, sogar mit Nobelpreis, aus unserem Land“).

Außerdem ist der öffentliche, auf Geläufigkeit und Anklang orientierte Kulturbetrieb immer in erster Linie daran interessiert, daß seine Werte (virtuose Sprachbeherrschung, brillanter Intellekt, abstraktes Philosophieren, Produzieren von scheinbar die Zeiten überdauernden Kunstwerken) als die wichtigsten gelten. An spirituellen bzw. religiösen Fragen wie Selbsterkenntnis und echter Weisheit ist er nicht interessiert oder behandelt sie sogar als lästige Konkurrenz.

Sich dem aufweckenden Einfluß eines Meisters auszuliefern bedeutet eine tiefgreifende persönliche Erfahrung, die existenzieller ist als die Produktion und Verbreitung schöngeistiger Schriften und Ideen. Denn dabei wird das eigene Verständnis von Werten, Antrieben und Lebenausrichtung fundamental hinterfragt. Hesses Bücher weisen zwar in diese Richtung, zeugen aber eben auch — wenn man die Hintergründe kennt — von einer bedauerlichen Halbherzigkeit und letztlich auch von einem frustrierenden Steckenbleiben auf dem Weg zu sich selbst.

Lesehinweise

Weitere Links:

Fußnoten und Quellen

  1. Gusto Gräser bei Karl-Wilhelm Diefenbach auf dem Himmelhof
  2. Selbst den „Demian“, das Ergebnis eines einjährigen Zusammenlebens mit Gräser, veröffentlichte Hesse anfangs unter einem Pseudonym. Auch alle anderen Äußerungen, die Gräser unterstützen sollten, verfaßte er stets anonym oder verschleiert, z.B. „Zarathustras Wiederkehr“
  3. z.B. Vorführung im mag. Theater: „Alle Mädchen sind dein!“ Steppenwolf, S. 229
  4. „Wie jeden Menschen, so fiel auch mich das langsam erwachende Gefühl des Geschlechts als ein Feind und Zerstörer an, als Verbotenes, als Verführung und Sünde. Was meine Neugierde suchte, was mir Träume, Lust und Angst schuf, das große Geheimnis der Pubertät, das paßte gar nicht in die umhegte Glückseligkeit meines Kinderfriedens. Ich tat wie alle. Ich führte das Doppelleben des Kindes, das doch kein Kind mehr ist.“ Demian, S. 57 - Es ist ein Kunstgriff, daß der vierzigjährige Hesse seinen Sinclair und die Begegnung mit Demian in die Jugendzeit verlegt. Die erwachende und unterdrückte Sexualität beim Jugendlichen beschreibt genausogut das Zugeständnis der Unterdrückung beim Ausgewachsenen, der die Lügen aufgibt.
  5. „Aber die Welt besteht auch aus anderem. Und das wird nun alles einfach dem Teufel zugeschrieben, und dieser ganze Teil der Welt, diese ganze Hälfte wird unterschlagen und totgeschwiegen.Gerade wie sie Gott als Vater alles Lebens rühmen, aber das ganze Geschlechtsleben, auf dem das Leben doch beruht, einfach totschweigen und womöglich für Teufelszeug und sündlich erklären! Ich habe nichts dagegen, daß man diesen Gott Jehova verehrt, nicht das mindeste. Aber ich meine, wir sollen Alles verehren und heilig halten, die ganze Welt, nicht bloß diese künstlich abgetrennte, offizielle Hälfte! Also müssen wir dann neben dem Gottesdienst auch einen Teufelsdienst haben. Das fände ich richtig. Oder aber, man müßte sich einen Gott schaffen, der auch den Teufel in sich einschließt, und vor dem man nicht die Augen zudrücken muß, wenn die natürlichsten Dinge von der Welt geschehen.“ Demian, S. 73
  6. Der rauschhafte Ball in der „Hölle“ im „Steppenwolf“, die Liebschaften mit einer jungen Frau und ihre ernüchternden, wahren Entsprechungen in den Tagebuchgedichten aus „Krisis“:
    „So blind hast Du gewühlt in meinen Haaren,
    So wild und irr gebrannt an meinem Munde!
    Und jetzt, Lolo, bist du davongefahren,
    Ein zahmes Huhn mit seinem Eheknecht;“
    zweite Strophe von vier aus „Morgen nach dem Maskenball“, Krisis, S. 55
  7. „Dieser begabte und interessante Herr Haller hatte zwar Vernunft und Menschlichlichkeit gepredigt und gegen die Roheit des Krieges protestiert, er hatte sich aber während des Krieges nicht an die Wand stellen und erschießen lassen“ Steppenwolf - vgl. dazu: Gräser wurde wegen Kriegsdienstverweigerung zeitweilig zum Tode verurteilt
  8. „Auf zum fröhlichen Jagen! Hochjagd auf die Automobile“ [Steppenwolf] - Eine blutige, Vorstellung im magischen Theater, wo er Mord und Vernichtung von üblichen verlogenen Sichten (Kampf gegen die Maschinen) auslebt. Aus dem Abschnitt spricht eine tatkräftige, unschuldige Kraft. Es ist ein verlorener Traum, denn Hesse hat in Wirklichkeit keine falschen Bilder eingerissen ohne Rücksicht auf Beifall von Publikum und gutratenden Freunden; er hat seinen „Krieg“ nicht geführt, er war nicht seiner Wut und Wahrhaftigkeit gefolgt.
  9. “[…]Einst war ich ein kleiner Junge,
    Lernte Griechisch und ging zur Konfirmation,
    Eines frommen Vaters vielversprechender Sohn.
    Aber was ich damals versprochen,
    Daraus ist nicht viel geworden,
    Ich bin heraus aus eurem Garten gebrochen,
    Schweife flackernd umher in der Wildnis,
    Noch verfolgt und gequält von jenem Jugendbildnis,
    Das ich mich mühe zu tilgen und langsam zu morden.
    Vielleicht morde ich's, Mädchen, in deiner Seele,
    Vielleicht, noch eh diese Stunde der Lust verglüht,
    Drück ich die Hände um deine zuckende Kehle.[…]“
    Krisis, S. 50 - Hesse leidet Jahre nach der Trennung von Gräser daran, daß er seine alte Welt nicht hinter sich gelassen hat. Hier bringt er seine Tagebucheinträge in Gedichtform, weil seine Gedanken in normaler Sprache unsäglich gewesen wären. In der Mordlust drückt sich seine Selbstverleugnung und die Wut über sich selbst aus, nicht zu seiner Kleinheit und seinen Schwächen aber auch seiner Überzeugung gestanden zu sein. Hesse spielte auch mehrfach in seinem Leben mit Selbstmordgedanken, was eigentlich besser zu seiner Zurückgezogenheit paßt als Aggression gegen andere.
  10. „Die Einsicht war nicht freudig, obwohl irgendwie bestätigend und beglückend. Sie war hart und schmeckte rauh, weil ein Klang von Verantwortlichkeit in ihr lag, von Nichtmehrkindseindürfen, von Alleinstehen.“ Demian S. 74 - Kindsein bedeutet bei Hesse an mehreren Stellen: Nicht alleinstehen können, unterkriechen in der Masse, vgl. z.B. den Begriff „Kindermenschen“ im „Siddharta“
  11. „Bei mir aber spürte er, neben dem echten Interesse, zu viel Spiel, zu viel Freude am gescheiten Schwatzen, oder so etwas, kurz, einen Mangel an vollkommenem Ernst.“ Demian, S. 76
  12. Gott befohlen, der Teufel wird dich holen, verhauen und versohlen für dein Schreiben und Kohlen, hast ja alles zusammengestohlen.“ Steppenwolf - Das ist eine Anspielung auf die Verwendung von Gräsers Nachdichtung des Tao-te-king für eigene Schriften. Das Gedicht, das er Mozart sprechen läßt, zeigt Ähnlichkeiten mit den Gedichten von Gräser und dessen lautmalerischen Wortneuschöpfungen. Er legt seinem ehemaligen Lehrer die Rüge über sich selbst in den Mund. Für mich wird hier ganz besonders deutlich, wie Hesse mit seinem Gewissen zu kämpfen hatte.
  13. „Ich sah ihm hilflos ins Gesicht, das war ernst und klug wie stets, und auch gütig, aber ohne alle Zärtlichkeit, es war eher streng. Gerechtigkeit oder etwas Ähnliches lag darin.“ Demian, S. 46
  14. „Ich mußte die Abhängigkeit von Kromer durch eine neue ersetzen, denn allein zu gehen vermochte ich nicht. So wählte ich, in meinem blinden Herzen, die Abhängigkeit von Vater und Mutter, von der alten, geliebten 'lichten Welt', von der ich doch schon wußte, daß sie nicht die einzige war. Hätte ich das nicht getan, so hätte ich mich zu Demian halten und mich ihm anvertrauen müssen. Daß ich das nicht tat, das erschien mir damals als berechtiges Mißtrauen gegen seine befremdlichen Gedanken; in Wahrheit war es nichts als Angst. Denn Demian hätte mehr von mir verlangt als die Eltern verlangten, viel mehr, er hätte mich mit Antrieb und Ermahnung, mit Spott und Ironie selbständiger zu machen versucht. Ach, das weiß ich heute: nichts auf der Welt ist dem Menschen mehr zuwider, als den Weg zu gehen, der ihn zu sich selber führt!“ Demian, S. 55, Hvh. von mir - Hesse spricht hier zehn Jahre später über den ersten Rückzug von Gräser nach 1907.
  15. “'Es ist das Gesetz vom Dienen. Was lange leben will, muß dienen. Was aber herrschen will, das lebt nicht lange. […] Die anderen aber, die sich bloß durch Streberei zu Herren gemacht haben, die enden alle im Nichts.' 'In welchem Nichts, Leo?' 'Zum Beispiel in den Sanatorien.'“ Morgendlandfahrt, S. 34 - Mit Sanatorien ist wohl eine Anspielung auf Oedenkovens Sanatorium auf dem Monte Verità gemeint.
  16. „Unsre Fahrt nach Morgenland und die ihr zugrunde liegende Gemeinschaft, unser Bund, ist das Wichtigste, das einzig Wichtige in meinem Leben gewesen,[…]“ Morgenlandfahrt, S. 44 f. - Eine von vielen Stellen, an der Hesse der früheren Verbindung zu Leo alias Gräser nachtrauert.
  17. Außer Frau Eva, Max und mir gehörten zu unsere Kreise, näher oder ferner, noch manche Suchende von sehr verschiedener Art. Manche von ihnen gingen besondere Pfade, hatten sich abgesonderte Ziele gesteckt und hingen an besonderen Meinungen und Pflichten, unter ihnen waren Astrologen und Kabbalisten, auch ein Anhänger des Grafen Tolstoi, und allerlei zarte, scheue, verwundbare Menschen, Anhänger neuer Sekten, Pfleger indischer Übungen, Pflanzenesser und andre. Mit diesen allen hatten wir eigentlich nichts Geistiges gemein als die Achtung, die ein jeder dem geheimen Lebenstraum des andern gönnte. Demian S. 170
  18. Hermann Hesses Stimme
  19. aus „Der Steppenwolf“
  20. siehe z.B. „Zarathustras Wiederkehr“
  21. Vgl. z.B. den Spendenaufruf für Gusto Gräser in der schweizerischen Tageszeitung „Der Bund“ vom 19.1.1917, in dem Hesse als Adressat genannt wird.
  22. 1926 setzten sich bekannte Persönlichkeiten ein, um eine Ausweisung Gräsers aus dem Deutschen Reich zu verhindern. s. Gesuch

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