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Gottfried Keller: Der grüne Heinrich

© Gerd-Lothar Reschke | ab 29.12.2018

Erste Fassung: 1854/55, zweite Fassung: 1879/80.

Ein Entwicklungsroman mit zahlreichen biographischen Bezügen

Mit diesem Werk hat der Schweizer Schriftsteller Gottfried Keller einen Entwicklungsroman mit zahlreichen unverkennbar biographischen Bezügen verfaßt. Er arbeitete den Roman in Laufe vieler Jahre mehrmals um.

Wie J. W. Goethe und Adalbert Stifter hat auch Keller zuerst versucht, die Laufbahn eines Malers einzuschlagen, und sich wie diese später zur Tätigkeit als Autor entschlossen. Der Grüne Heinrich zeigt ausführlich die inneren Zweifel und tastenden Versuche, in einer der Kunst wenig aufgeschlossenen Gesellschaft als Maler Fuß zu fassen und sich die entsprechenden Fähigkeiten anzueignen.

Die Sonderrolle bzw. Isolation des Künstlers

Die Person des Heinrich wirkt in der auf sachliche Zwecke orientierten deutsch-schweizerischen Gesellschaft wie ein Fremdkörper. Dies spiegelt zugleich die Problematik des Künstlertums wieder: für das Geschaffene (sei es, wie in diesem Fall, das Gemälde, oder wie im Falle des Autors das literarische Erzeugnis) gibt es keinen Markt, bei dem die durch langjährige Schulung erworbene Fähigkeit auch nur annähernd in finanzielles Einkommen und sozialen Status umgesetzt werden könnte. Der Künstler bleibt Fremdkörper und wird als Sonderling angesehen. Zugleich ist ihm bewußt, wo seine Berufung liegt — nur daß diese sich kaum oder gar nicht mit den Interessen der Gesellschaft und ihrer eher materiellen Werte verbinden läßt.

Empfindsamkeit

Die tastenden, überwiegend unbeholfenen Versuche des Romanhelden, mit Frauen, die ihn anziehen, Kontakt aufzunehmen, korrespondiert zu dessen überdurchschnittlicher Empfindsamkeit und Erlebnisoffenheit. Analog dazu wird auch die größere Offenheit und Wahrnehmungsfähigkeit der Hauptperson vom Autor eher als Defizit denn als Stärke bewertet. So entsteht der falsche Eindruck von Tölpelhaftigkeit und peinlichem Versagen, während eine unvoreingenommene und das rein Faktische anerkennende Perspektive die eigentlichen Ursachen der Entfremdung von der als Norm gesetzten Durchschnittlichkeit klar zutage treten lassen würde. Denn diese als absolut gesetzte Normalität läuft auf nichts anderes hinaus als auf Plumpheit und platte Rollenidentifikation, auf ein Selbstverständnis als purer Nutzenerbringer und Pflichterfüller.

Ein Meisterwerk der deutschen Sprache

Eindrucksvoll demonstriert Keller bei seinem Werk allerhöchste Sprachkunst und eine stupende Fähigkeit, selbst scheinbare Banalitäten und Details so in Worte zu fassen, daß der Leser sich direkt in den virtuellen Erfahrungsbereich der Romanfigur und deren tiefere Empfindungen hineinversetzt fühlt. Literarisch ist das Werk ein purer Genuß. Dem steht die ständige selbstkritische und ironisierende Distanzierung des Autors von der Hauptfigur (und wohl auch indirekt vom eigenen Werdegang und Erleben) gegenüber. Hart und ohne Beschönigung gesagt: Der Grüne Heinrich wirkt wie ein Verlierer und Zu-kurz-Gekommener.

Wahrscheinlich hat sich der Autor hier, ob bewußt oder nicht, ein Spiegelbild geschaffen, in dem er sich selbst abwertet und damit zeigt, in welchem Konflikt er lebenslang zu seiner eigenen Natur gestanden ist. Nichts davon ist gerechtfertigt. Allein die sprachliche Meisterschaft und die nicht mehr zu übertreffende Präzision und Frische des Beobachtens zeugen vom genauen Gegenteil.

Orientierungslosigkeit

Im letzten und vierten Teil des Romans zeigt sich das Manko mehrerer, wenn nicht aller Entwicklungsromane: die Suche nach einem plausiblen Entwurf sinnhafter Lebensgestaltung stößt immer da an ihre Grenzen, wo das Verständnis des Autors von der eigenen Sinnfindung oder Sinngebung endet. So endet der Grüne Heinrich in einer bemühten Versöhnlichkeit, die nicht wirklich befriedigt. Weder vermittelt das Künstlertum eine volle Erfüllung, noch kann diese in einer nur oberflächlich befriedigenden Partnerbeziehung zwischen Mann und Frau bestehen.

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