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Zur Entwicklung von Werten bei Adalbert Stifter

GLR | 21.8.1997
Beitrag aus dem Buch IDEENMAGAZIN von Gerd-Lothar Reschke

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Adalbert Stifter geht es in seinen Werken um Werte und deren Entwicklung, um die Entwicklung persönlichen Wertempfindens. Seine Prosa möchte nicht einfach nur schön oder gut sein, sie möchte die Wahrnehmung des Lesers für das Schöne und Gute schärfen. Und sie erzählt Geschichten, in denen Menschen zu einer solchen Erfahrung gelangen und hingeführt werden.

Es sind sehr verhaltene, leise, bedächtige Geschichten. Geschichten mit einer eigenen Zeit, einem eigenen Rhythmus —— Geschichten, in denen die äußere Natur eine große Rolle spielt, und die Wahrnehmung ihrer Veränderungen.



Adalbert Stifter, Gemälde von Bartholomäus Székely

In der Erzählung Bergkristall verlaufen sich zwei Kinder, ein Bruder und ein Schwesterchen, beim Heimweg zu ihrem Elternhaus im tiefsten Winter im Gebirge. Sie gelangen in eine fremde Welt und verlieren völlig die Orientierung. Man rechnet damit, daß sie sterben werden. Aber schließlich können sie gerettet werden und gelangen wohlbehalten nach Hause.

Die Natur ist eine größere Macht als wir Menschen; wir sind ihr ausgeliefert, aber wo wir uns staunend in sie einfügen, finden wir uns aufgehoben und werden mitgetragen. Aber da ist noch etwas anderes in dieser Erzählung, etwas sehr Anrührendes, sehr Zartes, sehr Weiches und Liebevolles: Achtsamkeit, Wertschätzung, Würdigung und Respekt. Die Szenerie mit dem Menschen, wie er der Natur begegnet, ist nur eine Kulisse für ein tieferes Gleichnis: Auch die Natur ist nicht entscheidend, ja nicht einmal der Mensch —— das Lassen-Können, die friedliche Ehrfurcht vor der Existenz ist das Anliegen, das Stifter behutsam darstellt und in immer wieder neuen Bildern portraitiert. Über seinen Landschaften und Naturbildern, in denen die Menschen nur wie einsame, kleine und sehr wenig bedeutsame Punkte erscheinen, schwebt ein Hauch der Ewigkeit.

Diese leise, manchmal auch etwas sehnsüchtige Stimmung, die zugleich ein tiefes Einatmen unendlicher Ruhe, zeitlosen Friedens mit sich führt, strahlt eine geheimnisvolle Wirkung aus: Sie erzieht. Sie bildet. Sie bewirkt Reifung und Lernen. Sie ist wie Nährboden und zugleich Inspiration für zart keimendes Verstehen. Angesichts der stoischen Kulisse von Natur und weiter Landschaft, von Einsamkeit und Stille, in die die Figuren bei Stifter hineingestellt sind und in die auch wir, als Leser, mit geduldiger, nie nachlassender Beharrlichkeit mit hineingezogen werden, beginnt wie in einem naturgesetzmäßigen Kristallisationsvorgang ein innerer Prozeß in Gang zu kommen. Wie aus dem Nichts, wie aus sich selbst heraus entsteht Wertverständnis. Vielleicht als Frucht des Herzens, denn die Ruhe und Standfestigkeit seiner Bilder, seiner Schilderungen und Portraits spricht zum Herzen, läßt das Herz wärmer werden und zu einem Ausdruck drängen.

Sie sehen, ich benutze Begriffe aus der Malerei. Stifter erzählt nicht, er zeichnet mit Worten. Denn er war auch Maler. Malerei war — genau wie bei Johann Wolfgang von Goethe übrigens — seine zweite Berufung.

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Im Nachsommer wird dieses Grundmotiv der Entwicklung hin zur Reifung eines individuellen Wertempfindens am gründlichsten und hingebungsvollsten ausgebreitet und vertieft. Auch hier beginnt die Erzählung (die man heute als Roman bezeichnen würde) mit einer Naturschilderung — der Beobachtung eines heraufziehenden Gewitters. Der Ich-Erzähler wird von einem älteren Mann in dessen Haus beherbergt. Der Ältere offenbart nicht nur genaueste Kenntnis der Naturvorgänge, sondern nach und nach entpuppt sich sein Haus und sein gesamtes Wirkungsfeld als tief und grundlegend konzipiertes Beispiel für innere und äußere Kultur.

Mit herkömmlicher Bildung oder intellektuellem Standesdünkel hat das nichts zu tun, ja es steht sogar in vielen Punkten in klarem Kontrast dazu. Der ältere Mann weist dem Jüngeren in immer neuen Situationen und Gesprächen einen Weg zum Selbsterwerb einer Wert-Gewißheit, die individuell heranwächst und sich aus sich selbst heraus entfaltet, zugleich aber objektive Züge annimmt, da sich die Entfaltung der Individualität trifft und deckt mit der entsprechenden parallelen Erfahrung anderer Individuen, die ebenfalls ihre eigene Reifung vollzogen haben.

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Adalbert Stifter setzt mit dieser Erzählung einen ganz konzentrierten Impuls, der auf uns als Leser hinzielt. Den Impuls nämlich, selbst auf eigene Beine zu kommen und fähig zu werden, eigene Werte nicht nur als Meinung oder Weltanschauung neu zu definieren, sondern selbst ganz praktisch zu leben.

Er gibt zahlreiche Beispiele. Eines davon ist die Entwicklung einer eigenen Kunstauffassung, die sich in der Gestaltung und Auswahl der eigenen Wohnumgebung ausdrückt. Ein anderes ist die Idee, den eigenen Kleidungsstil nach persönlicher Geschmacksempfindung neu zu gestalten, also quasi einen eigenen Modetrend zu schöpfen. Es gibt weitere Beispiele wie Schmuck oder Gartengestaltung.

Der Mensch findet Vorgegebenes vor, das er studieren und von dem er lernen kann. Aber sein Lernen ist nicht ein Nachahmen und erzwungenes Sich-Einfügen in herrschende Vorstellungen, sondern ein Sich-inspirieren-Lassen durch Beispiele. Besondere Leistungen der Vergangenheit sollen nicht erdrücken und einengen, sondern Mut machen und das Feld der Möglichkeiten öffnen. An ihnen läßt sich der eigene Blick schärfen und ein tieferes Verständnis entwickeln. Bei alledem geht es darum, dem Lernenden erst recht zur eigenen Urteilsfähigkeit zu verhelfen, ihn nicht nur an seinem Verstand, sondern auch an seinem Herzen, seinem Gefühl, seiner Intuition anzusprechen und dort etwas zum Klingen zu bringen.

Daher ist Behutsamkeit und Geduld notwendig. Der Nachsommer atmet diese gelassene, äußerst wohltuende Ruhe und Langmut, bei der die Hauptfigur sich Zeit nehmen darf, niemals gedrängt oder genötigt wird, sondern auch einmal nur beobachten, wandern, reisen und die erfahrenen Eindrücke rekapitulieren darf. Was geschieht, ist wie bei einem Gärtnern, wie beim Wachsen eines Baumes, das auch deshalb so beeindruckend ist, weil es unser kurzfristiges, auf schnelle Effekte begieriges Warten transzendiert und Ergebnisse zeitigt, die unsere Vorstellungen sprengen.

Was der Gärtner bei seinen Pflanzen beobachten kann, findet sich auch beim Menschen: Etwas entsteht, das nur mit dem Wort Wunder zu kennzeichnen ist, weil sich wie aus einem Nichts Wert und Schönheit und Tiefe manifestiert, etwas also, das nicht aus bereits Bekanntem und Vorhandenem logisch abzuleiten ist. Die Blüte der Rose ist immer ein Wunder — in der niemals gleichen Form ihrer Blätter, dem aus dem bisherigen Grün der Pflanze unerklärlich geborenen Rot oder Gelb, im verzückenden Duft, der keinem Irdischen mehr verwandt zu sein scheint.

Aber wie die Rose ist auch der erblühte Mensch ein Wunder, und kein geringeres. Auch hier entsteht etwas, das kausal nicht herzuleiten ist. Und das, wenn man es nur offen, ruhig und mit frischen, urteilsfreien Augen betrachtet, diesem bestimmten himmlischen Duft der Rose ähnelt: als Essenz des Wesens, die es nur so gibt, nur hier, nur in diesem einen Menschen.

Es gibt bei Stifter also zweierlei Natur: die äußere als biologische Umgebung, und die innere als Sehnen und Streben des Gemüts. Und es gibt zweierlei Arten von Kunst: die äußere in Form der kulturellen Hervorbringungen, und die innere als Reifung und Schulung anhand von künstlerischen und wissenschaftlichen Studien.

Sowohl Natur als auch Kunst sind wiederum nur zwei Aspekte ein und derselben Sache, sie verschmelzen zu einer Einheit in der Entfaltung dessen, was im Menschen angelegt ist. Kunst und Natur stellen keinen Widerspruch dar, sondern sind die zwei unverzichtbaren Seiten einer auf Ganzheit angelegten pädagogischen Synthese. Indem der sich entwickelnde Mensch diese Erweiterung und Reifung erlebt, beginnt er, in sich selbst einen harmonisch ruhenden Pol zu bilden, eine Wertinstanz, eine Autorität (im Sinne von Urheber), nicht kraft Tyrannei oder Intrige, sondern kraft Lebenserfahrung und Verständnis. Dieses Verständnis ist nicht etwas, das ihm angehört, sondern er ist es selbst: das Verständnis und er selbst sind eins.

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Wir sollten uns das noch einmal klarmachen, denn man kann nicht überschätzen, wie tief und weitreichend Stifters Vision ist: Sie gleicht dem östlichen Ideal der Selbstverwirklichung als Selbsterkenntnis, indem sie dem, was im Einzelnen ursächlich und authentisch angelegt ist, absolute Priorität einräumt. Der Einzelne darf nicht zum Vehikel gesellschaftlicher Interessen verkümmern (wie es unsere heutige Zivilisation und Kultur immer wieder zu drehen versucht hat). Die in ihm selbst — aber erst nach einer langen Reifung und Lehrzeit! — gefundene Wertinstanz ist das Wesentlichste und Wichtigste, aus dem sich alles andere ergeben mag — auch gesellschaftliche Wertbegriffe und Wertorientierungen.

Sie unterscheidet sich jedoch von einem nur auf persönliche Selbsterfahrung gerichteten Verständnis darin, daß sie der Kultur einen wichtigen Platz einräumt. Die Kultur ist die wichtigste Lehrerin, ihre Rolle ähnelt beinahe der einer spirituellen Schule. Aber die Kultur ist andererseits auch Mittel und nicht Selbstzweck, nämlich Hilfsmittel zur weiteren Schulung, weiteren Entwicklung. Sie befruchtet und sie wird befruchtet. Zwischen ihr und dem Lernenden findet ein lebendiges Zusammenspiel statt: Sie bietet einen Kontext, ein Gesamt-Umfeld, in dem er seine Werte erst wirklich ausprägen und sein gewonnenes Verständnis nicht nur einbringen, sondern auch grenzenlos weiterbilden kann.

Reife tritt selbst im Sommer noch nicht ein, sondern erst im Nachsommer. Dann, wenn nur großzügige Geduld und tiefes Verstehen noch warten konnten. Ist daraus nicht abzuleiten, wie wenig in unserer gehetzten und auf vordergründige Erfolge fixierten Zeit echte Reife überhaupt noch geschätzt wird und zu ihrem Recht kommt? Insbesondere auf dem Feld des Menschen selbst, der, wie die Erzählung anschaulich dokumentiert, am meisten Toleranz, mitfühlende Einsicht und stetige Förderung benötigt?

Bereits im Beitrag zu Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre (siehe IDEENMAGAZIN) wurde ein Kritikpunkt angesprochen, der auch hier wieder möglich wäre: daß Stifters Vorstellungen zu utopisch wären. Daß wir heute in einer Zeit lebten, in der sich das Schwergewicht erst recht in Richtung auf Verwertung des Menschen anstatt auf seine Entfaltung und Reifung verlagerte. Man hätte heute keine Zeit mehr für so etwas, ist immer wieder zu hören.

Das kann nicht stimmen. Wenn heutige Menschen einen Großteil ihrer Freizeit damit ausfüllen, Sport- und Unterhaltungssendungen anzusehen, wenn nicht gar Verkaufswerbung, so entpuppt sich der angebliche Zeitmangel als billiger Vorwand. Man will einfach nicht. Aber vielleicht deshalb, weil man meint, man müßte? Muß man nicht immer wieder massenhaft Daten und Fakten schlucken, müssen nicht Kinder die fragwürdigsten Erziehungsanstrengungen über sich ergehen lassen, die darin bestehen, jeden natürlichen Lernimpuls zu ersticken und durch ein Vollstopfen mit Dingen zu ersetzen, die im fraglichen Zeitpunkt keineswegs nötig sind? Da wird immer auf die „Zukunft“ hin erzogen. Nur existiert diese Zukunft gar nicht mehr, außen in den Köpfen von Kultusministern! Die Zukunft, in der das alles gebraucht wird, was da gegen jeden Appetit hineingezwängt wurde und höchstwahrscheinlich längst wieder vergessen worden ist (denn auch das Gehirn und sein Gedächtnis sind lebendige und gar nicht so stupide Organismen!), diese Zukunft entpuppt sich dann als Arbeitslosigkeit, als Ideenlosigkeit der Wirtschaft, als Ideenlosigkeit und Verantwortungslosigkeit der Politiker, als völlige Rat- und Perspektivlosigkeit unserer Gesellschaft. Da wird völlig am Leben vorbei erzogen! Und, was fast noch schlimmer ist: Da wird die natürliche Lernfreude getötet, nur hier leider auch für die Zukunft.

Ja, Stifter steht in totalem Gegensatz zu den heute verbreiteten Lebenswerten und Lebenszielen! Die Welt der Ruhe, Naturliebe, der stillen Wahrnehmungen und weichen Gefühle des Herzens ist weitgehend vertrieben und ausgetilgt worden. Seine Werke sind wie Naturschutzgebiete für etwas im Aussterben Begriffenes. Es könnte sein, daß das, was da ausstirbt, nichts anderes ist als: das Menschliche.

Aber noch sind Überreste am Leben!

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Der für mich wesentlichste Aspekt von Stifters Werken geht sogar noch über Erziehung und Förderung des Menschen hinaus. Es ist die Qualität seines Beobachtens. In seinen Schilderungen scheint genau jenes nüchterne, trockene, scharfe So-Sein der Dinge hervor, wie es auch in der Meditation und im Zen aufleuchtet. Ohne entsprechende eigene praktische Erfahrung ist das jedoch schwerlich nachzuvollziehen. Diese Erfahrung kann durch meditative Disziplinen erworben werden, oder — wie bei Stifter selbst, oder beispielsweise bei Johann Wolfgang von Goethe, bei Hermann Hesse — durch hingebungsvollste Auseinandersetzung mit dem beobachteten Phänomen, wie sie etwa in der bereits erwähnten Malkunst unverzichtbar ist.

Um so beobachten zu können, muß das Ansprüche erhebende und auf sich selbst fixierte Ich in einem Maße beiseitegelassen werden, müssen Konzepte, Wahrnehmungsschablonen, tradierte Wertnormen und Sichtweisen in einer Weise überwunden werden, wie sie nur mit äußerster Selbstdurchdringung in Selbsterkenntnis und Selbsterforschung möglich wird. Um naturgetreu wiederspiegeln zu können, muß der Spiegel des Bewußtseins erst von allen Verunreinigungen und Verzerrungen gereinigt worden sein. Dazu gehören auch eigene Leidenschaften und Besessenheiten. Vorher kann ein Stein nicht als Stein gesehen werden, sondern der Verstand steht unter dem notorischen Zwang, ihn künstlich hochzupäppeln zu etwas Außergewöhnlichem und Spektakulärem.

Im Zen ist der einfache Stein schön und kann nicht mehr schöner gemacht werden. Und bei Stifter ist eine ruhig betrachtete Landschaft schön und birgt alle Schönheit der Welt in sich, und dasselbe gilt für ein menschliches Gesicht, für ein Gefühl, für ein Begegnen von Auge zu Auge.

Der Beobachter, der sich selbst nicht kennt, fingert mit schmutzigen Fingern am betrachteten Objekt herum und kann es nicht in Ruhe lassen, kann es nicht respektieren. Das Spektakuläre, das allerorten beschworen werden muß, ist nur die Kehrseite der eigenen Furcht, selbst minderwertig, hohl, langweilig und bedeutungslos zu sein. Der eigene Überdruß und die eigene zynische Geisteshaltung des Beobachters benötigt das Besondere, weil es Angst vor der eigenen Nicht-Besonderheit spürt.

Stifter hat sich damit auseinandergesetzt, nicht nur mit dem Verstand, sondern auch und vor allem mit dem Herzen. Er ist ein bescheidener, einfacher, guter Mensch ohne Falschheit und Eitelkeit gewesen. Die Unschuld dessen, der sich selbst erkannt hat, läßt das Phänomen, wie es ist und beläßt ihm damit jene Würde, die bei jeder anderen Sichtweise verloren ginge.

Auf solchem Boden kann Sprache wie diese entstehen, Prosa, die im Herzensmensch eine sehr tief verborgene Saite zum Klingen bringt (und in den anderen Langeweile, Ärger und Unruhe auslöst, wie es nun einmal immer ist und sein muß). Und in dieser Gewöhnlichkeit liegt ihre Besonderheit, in dieser schlichten Einfachheit liegt ihre Größe.

Ausgewählte Bibliographie Adalbert Stifters (Leseempfehlungen)

  • Studien. 6 Bände. 1844-1850
    • Das Heidedorf
    • Der Hochwald
    • Die Mappe meines Urgroßvaters
    • Der Hagestolz
  • Bunte Steine. 2 Bände. 1853
    • Granit
    • Kalkstein
    • Bergkristall
  • Der Nachsommer. Eine Erzählung. (3 Bände) 1857
  • Witiko. Eine Erzählung. (3 Bände) 1865-1867

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