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Eine Lehre für Bettler
Eine der größten Lebenslügen
Es gibt eine Geschichte, die habe ich vor etlichen Jahren in einem Buch von Stuart Wilde gelesen. Es ist schon so lange her, daß ich sogar den Titel des Buches vergessen habe. Aber der ist hier auch nicht wichtig, sondern wichtig ist mir diese eine Passage. Sie klingt banal und trocken, aber da steckt viel, viel mehr dahinter.
Kurz wiedergegeben:
Wilde geht mit einem Bekannten zusammen eine Straße entlang. Da steht ein Bettler und hält ihnen einen Hut hin, in dem bereits ein paar Münzen liegen. Wilde geht näher und nimmt die Münzen heraus; er sagt: „Herzlichen Dank!“
Sowohl sein Bekannter als auch der Bettler sind entrüstet. Diesem armen Mann auch noch sein letztes Geld wegzunehmen!
Was dahintersteckt
Wilde kommentiert: Das Geld dieses Mannes zu nehmen, statt weiteres in seinen Hut zu legen, ist die eigentliche Hilfe. Es geht darum, das Geben zu lernen, nicht das Nehmen. Wer gibt (sich einbringt, ausstreut, mit vollen Händen hergibt, sich öffnet), der ist reich und der lebt ein Leben des Reichtums. Der öffnet sein Herz, und damit gelangt er an die Quelle seines Potentials. Wer immer nur nimmt, also saugt, schmarotzt, sich hilfebedürftig stellt, selbst aber nicht tut, was er kann, der kultiviert eine Haltung der Armut. Der erntet dann auch immer bloß Armut.
Laut Wilde besteht die Lehre darin, die vorhandene Einstellung umzukehren — und dabei den fundamentalen Kreislauf, um den es sich handelt, und der ganze Menschenschicksale wesentlich vorausbestimmt, umzudrehen.
Schlußfolgerungen
Ich bezweifle, daß die Anwesenden bei dieser Begebenheit, Wilde selbst ausgenommen, damals auch nur einigermaßen verstanden haben, worum es geht. Wichtig aber ist an diesem ganzen Beispiel nur eines: Wilde hat völlig recht!
Um das aber in seiner Tragweite besser nachvollziehen zu können, reicht es nicht, diese eine Geschichte nur beiläufig in Erinnerung zu behalten. Den eigentlichen Nutzen entfaltet sie erst, wenn man beginnt, sie auf viele weitere Situationen und Menschen zu übertragen. Man muß das, was hier dahintersteckt, studieren, erforschen, und man muß es durch Praktizieren lernen. Das kann Jahre oder Jahrzehnte dauern. Von der Lebenshaltung der Armseligkeit und des Brauchens fortzukommen und sich in ein Wissen um den eigenen inneren Reichtum hineinzuversetzen, dieses dann auch wieder und wieder in konkreten Situationen selbst zu praktizieren und dabei weitere Erfahrungen zu machen, die das Verständnis des besagten Zusammenhangs verfestigen und vertiefen — all das klappt eben nicht in ein paar Sekunden oder Minuten.
Die Sache ist groß, sehr groß, und wer sie nach und nach in der Vielfalt all ihrer Implikationen zu entdecken beginnt, der darf eine reiche Ernte einfahren. Und die hat er sich dann auch wahrlich verdient.
— Gerd-Lothar Reschke 2.11.2004
— Gerd-Lothar Reschke 14.12.2018 17:49 (einkopiert)