GLR RELIGION
Zen ist ein perfektes Beispiel, daß der aktuelle Moment des Hier und Jetzt wesentlich ist, nicht vom Verstand auf diesen Moment projizierte Begrifflichkeiten und geistige Muster.
Die Wahrheit steht nicht in den Büchern und Schriften.
Der Zen-Meister Mu-nan hatte nur einen Nachfolger. Sein Name war Shoju. Nachdem Shoju sein Zen-Studium abgeschlossen hatte, rief Mu-nan ihn in sein Zimmer. „Ich werde alt“, sagte er, „und soweit ich Shoju kenne, bist du der einzige, der diese Lehre weiterführen wird. Hier ist ein Buch. Es wurde über sieben Generationen hinweg von Meister zu Meister weitergegeben. Ich habe auch viele Punkte hinzugefügt, die meinem Verständnis entsprechen. Das Buch ist sehr wertvoll, und ich gebe es dir als Zeichen deiner Nachfolge.“
Zen Flesh, Zen Bones, S. 65 f.
„Wenn das Buch so wichtig ist, solltest du es besser behalten“, antwortete Shoju. „Ich habe dein Zen ohne Schriftzeichen empfangen und bin damit zufrieden, so wie es ist.“
„Das weiß ich“, sagte Mu-nan. „Gleichwohl wurde dieses Werk seit sieben Generationen von Meister zu Meister weitergegeben, also kannst du es als Symbol dafür behalten, daß du die Lehre erhalten hast. Hier.“
Die beiden unterhielten sich zufällig vor einem brennenden Kohlenbecken. In dem Moment, als Shoju das Buch in seinen Händen spürte, warf er es in die glühenden Kohlen. Er hatte kein Verlangen nach Besitztümern.
Mu-nan, der noch nie zuvor wütend gewesen war, schrie: „Was machst du da?“ Shoju schrie zurück: „Was sagst du da?“
Keine Ideologie, keine Weltanschauung.
Nachdem Kakua den Kaiser besucht hatte, verschwand er, und niemand wußte, was aus ihm geworden war. Er war der erste Japaner, der Zen in China studierte, aber da er bis auf eine Notiz nichts davon zeigte, ist er nicht dafür bekannt, Zen in sein Land gebracht zu haben.
Zen Flesh, Zen Bones, S. 66 f.
Kakua besuchte China und nahm die wahre Lehre an. Während seines Aufenthalts reiste er nicht. Er meditierte ununterbrochen und lebte in einem abgelegenen Teil eines Berges. Immer wenn Menschen ihn fanden und baten, zu predigen, sagte er ein paar Worte und zog dann in einen anderen Teil des Berges, wo man ihn weniger leicht finden konnte.
Der Kaiser hörte von Kakua, als er nach Japan zurückkehrte, und bat ihn, Zen zu seiner Erbauung und der seiner Untertanen zu predigen.
Kakua stand schweigend vor dem Kaiser. Dann holte er eine Flöte aus den Falten seines Gewandes hervor und blies einen kurzen Ton. Er verbeugte sich höflich und verschwand.
Die Zen-Geschichten erscheinen, im Vergleich zu den im Westen bekannten religiösen Traditionen, als negativ: Sie hinterlassen keine "Weisheit" in der uns bekannten feststehenden Form, also keine Lehre, kein Wissen, kein herkömmliches Verständnis, und noch nicht einmal die hier ebenfalls als bedeutsam und wertvoll betrachtete emotionale Gratifikation ("Liebe", "Glaube"). Aber sie schaffen auf ganz praktische, direkte Weise einen Freiraum, in dem das, was ist, stattfinden kann.
Dahinter steht das tiefe Wissen, daß diese Freiheit von geistigen Modellen und Anschauungen das eigentliche Bedeutsame und Wertvolle erst ermöglicht, und daß dieses Bedeutsame und Wertvolle vorhanden ist. Es manifestiert sich aus der Leere, dem Nichts, aus der Weite und der Offenheit des Seins heraus, während sämtliche ins Leben hereingebrachte Prinzipien und Vorstellungen des Verstandes diese Weite und Offenheit verhüllen.
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